Die Vieldeutigkeit der Musik
Jemand sagte einmal zu mir, dass man unterschiedliche Musiken beim Hören auf einer Achse imaginieren könne, welche sich zwischen zwei Polen erstreckt: Einen Pol nenne man „Kunstschönheit“, den anderen „Naturschönheit“.
Bevor ich dazu etwas von Kant noch Hegel bemerken konnte, wurde mir weiter erläutert:
Die Ästhetik der „Naturschönheit“ zeige sich in musikalischen Kompositionen, die (ähnlich unserer Umwelt) nach Proportionsfolgen oder Verteilungsmustern aufgebaut sind, und die sich oft als zeitliche Entfaltung gesetzter Regeln manifestieren. Sie können im Kleinen unbestimmt, ja chaotisch scheinen, wirken im Großen aber ausbalanciert und fast statisch. Formale Bewegungen sind häufig anhand parametrischer Entwicklungsprozesse gestaltet, welche großflächig verlaufen können. Wenn klare Beginne und Enden oftmals fehlen, entsteht umso mehr der Eindruck eines Ausschnitts eines größeren Ganzen.
Beispiele für Musiken der „Naturschönheit“ seien die geistliche Vokalmusik der Renaissance (Stichwort „varietas“), aber auch Werke der seriellen Musik, der aleatorischen Musik und der Minimal Music, inkl. deren Vorgängern wie Debussy und Webern. (Man merke, dass hier trotz großer Unterschiede in Kompositionstechnik und „-ästhetik“ große Gemeinsamkeiten im Hörerlebnis bestehen.)
Das Hören solcher Werke sei vergleichbar mit dem Betrachten von Natur; von Elementen, Gestirnen, Landschaften, Flora und Fauna. Sie wenden sich weniger aktiv an uns, als sie die Sinne zum „Schweifen“ anregen, wodurch unsere eigenen Gedanken und Stimmungen an die Oberfläche kommen.
Werke der „Kunstschönheit“ können zwar Proportionen und Ordnungssysteme als Basis und Material haben, finden ihre Bestimmung aber weniger im Entfalten dieses Materials, sondern erzählen uns aktiv damit Charaktere und Geschichten, die von Überraschung und menschlicher Willkür geprägt und emotional wechselhafter gezeichnet sind. Sie wirken im Kleinen bestimmt und vorsatzhaft, insgesamt sind sie oft erfüllt von spannungserzeugender Disbalance, welche häufig schon in einem klaren Beginn angelegt wird und immer erst mit einem klaren Ende aufgelöst wird. Ihre Form ist im Dienste der Erzählung dramatisch gestaltet, oft vielmals unterteilt, und rhetorisch beeinflusst.
Beispiele seien die Musik des „klassischen Repertoires“ (also zwischen Barock und früher Moderne), sowie die populäre Vokalmusik.
Das Hören von Werken der „Kunstschönheit“ praktiziere man bestenfalls konzentriert und merkend mitempfindend, um dem Verlauf der musikalischen Erzählung folgen zu können und das stete Spiel mit der Erwartung einzugehen.
Obgleich ich diese Gedanken als faszinierend erachtete und im eigenen Hören reflektierte, würde ich dafür nicht die philosophisch vorbelasteten (und nur vergleichshaft statt wesenshaft wirksamen) Begriffe „Naturschönheit“ und „Kunstschönheit“ verwenden, sondern diese beiden Pole im Dienste einer weiteren Erkenntnis anders nennen: nämlich „passive Vieldeutigkeit“ und „aktive Vieldeutigkeit“ (diese Namen sind von Brian Ferneyhough inspiriert, jedoch variiert).
Wenn man nämlich (in Anlehnung an Hegel) argumentieren könnte, dass der Mensch beim Erfahren von „Naturschönheit“ realisiert, dass dieser Akt der Rezeption (mit Fokussierung und Bewusstwerdung des als „ästhetisch“ empfundenen) tatsächlich aus der eigenen schöpferischen Kraft der Rezipienten gespeist wird, die in der Folge zur Schaffung eigener Werke der „Kunstschönheit“ genutzt wird, so sieht man hier die Konvergenz der beiden nun nicht mehr so verschiedenen Begriffe sich verdeutlichen; nämlich in ihrer Abhängigkeit von der Wahrnehmung des Menschen.
Genau auf diese menschliche Wahrnehmung hin zielen also besser die Begriffe „passive Vieldeutigkeit“ („Naturschönheit“) und „aktive Vieldeutigkeit“ („Kunstschönheit“).
Und während man anhand der initialen Begriffsbeschreibungen von „Naturschönheit“ und „Kunstschönheit“ noch angeregt gewesen sein mochte, der ersteren „Hintergrundcharakter“ und der letzteren „Vordergrundcharakter“ zu attestieren (und dies auch wertend verstehen wollte), wird im gemeinsamen Begriff der „Vieldeutigkeit“ die gleichberechtigte künstlerische Wirksamkeit der beiden betont, welche sich bloß unterschiedlich äußert, und welcher unterschiedliche Rezeptionsmodi angemessen sind. (Anm.: Ferneyhough nennt passive Vieldeutigkeit auch „Einfachheit“ und aktive auch „Komplexität“, was wieder problematische Unschärfe und Wertung bringt. Außerdem muss man beachten, dass sich „komplexe“ Herstellung und Beschaffenheit eines Werkes nicht zwangsläufig im Höreindruck desselben wiederfinden (da bei mangelnder Fasslichkeit Komplexität in Beliebigkeit und Obskurität umschlägt; Geheimnis sich in Nebel verwandelt.)
Bei meiner Komposition „In manchen Stunden“ für Bläseroktett und Schlagwerk sind nicht nur „Hintergrund“- und „Vordergrund“-Gestalten, sondern alle musikalischen Ereignisse aus einem Material gewonnen, nämlich den 13 Tönen (in 3 Phrasen), mit denen das Stück beginnt. Diese 3 Phrasen können als Kanonstruktur geführt werden (3-stimmiger Kanon im Septabstand, welcher in Tritonusschritten aufwärts sequenziert, insgesamt also auf der Ganztonachse situiert ist). Transformationstechniken wie Umkehrung, Krebsgang, Transposition, Augmentation und Diminution werden hier statt auf eine Tonreihe auf die gesamte Kanonstruktur angewandt. Aus dieser 13-tönigen Struktur ist die gesamte Komposition entwickelt.
Als wiederkehrende zentrale Pole im Formverlauf wirken die Tonalitäten G-Dur und Des-Dur. Diese werden einerseits als „dialektische Gegensätze“ wirksam, offenbaren sich im Verlauf des Stücks aber ebenso als einander verwandte Punkte in einem tonalen Kontinuum; unterschiedliche Blickwinkel auf ein Gemeinsames – vergleichbar dem Kontinuum zwischen aktiver und passiver Vieldeutigkeit.
Viele meiner Kompositionen sind stark narrativ, sie erzählen Umgebungen, Gestalten und Ereignisse und verlangen konzentrierte rezeptive Mitarbeit, um (nicht etwa ein außermusikalisches Programm, sondern) den klingenden Formverlauf nachzuvollziehen und den Momenten von Referenz, Wiederholung, Variation und Kontrast zu folgen. Unter meiner elektronischen Musik vor allem gibt es auch Werke mit weitaus ruhigerem, passiveren Formverlauf. Doch sind diese ebenso durchsetzt von erzählerischem Hintersinn, und wollen verfolgt werden wie abstrakte Geschichten. Dabei ist es nebensächlich, ob das musikalische Material mehr geräuschhaft geprägt ist (wie in „welcome to my house“ für präpariertes Klavier vierhändig, „Erscheinungen“ für Streichorchester, oder „VENUS ANADYOMENE“ für Mehrkanal-Lautsprecher), oder ob es mehr tonale Strukturen verwendet, wie in meinen Liedern, „Multilog“ für Violine, Altsaxophon und Klavier, oder „In manchen Stunden“ für Bläseroktett und Schlagwerk – wenngleich ich im Ganzen eine Symbiose davon anstrebe.
Letztendlich kommt es mir weniger auf „aktiven“ oder „passiven“ Ausdruck an, als auf die Vieldeutigkeit selbst, die Kunst zur solchen macht.
Gabriel Bramböck (2025)