Mein kompositorisches Schaffen
Komponieren heißt für mich, die Welt menschlicher (und unmenschlicher) Erfahrungen künstlerisch auszudrücken und dabei ungehörte Arten des Erlebens zu finden. Neben der Ebene des Ausdrucks bedeutet es für mich auch, Fragen zu stellen, zu reflektieren und zu wagen.
Das Selbstverständnis einer Musik, die „denkt“ (wie es etwa beim großen Komponisten Werner Pirchner bis in die Werktitel hinein wirkt, welche oft als Fragen formuliert sind – von „Wem gehört der Mensch…?“ bis zu „Shalom?“ und „Heimat?“) führt zu einem „semantischen“ Umgang mit Tönen und Klängen, der unter anderem in der Tradition der motivisch-thematischen Arbeit von Mozart bis zu Schönberg (und vielen anderen) wurzelt.
Diese Tradition möchte ich mit den Mitteln der Gegenwart weiterführen: Genauso wie Tonhöhenfolgen, Rhythmen und Harmonien versuche ich, Klänge und Klangfarben (welche ich in ihrer Zusammensetzung verschiedener Teiltöne als Erweiterung der Harmonik verstehe) als musikalische „Gedanken“ zu behandeln und lasse sie wie herkömmliche musikalische Themen Konfrontationen, Kombinationen und Entwicklungen erfahren – so etwa in „Stillleben mit Klavier, Flöte und Kontrabass“ (2022), wo ich durch erweiterte Spieltechniken und elektronische Prozessierung eine gleichsam sprechende Geschichte rein durch die Entwicklung von Klangfarben und Texturen erzählen wollte. (In diesem Werk habe ich auch mit idiosynkratischen musikalischen Ausdruckstypen experimentiert und etwa Gesten wie von Tierschwärmen oder Bewegungen der „unbelebten“ Natur nachgebildet.)
Das erläuterte Prinzip ist auch für viele andere meiner Kompositionen prägend, sei es das Kammerorchesterstück „Zillenlied“ (2017), wo ein „virtuelles Drama“ (wie es bei Ligeti in Bezug auf seine „Aventures“ heißt – die gleichwohl ein recht anderes Ergebnis hatten), das also allein in der musikalischen Sprache artikuliert wird, entstehen soll und dafür musikalische Themen und Ideen die Rolle von Personen in einem Theaterstück annehmen. Sei es in meinen elektronischen Stücken wie „VENUS ANADYOMENE“ oder „In utopischen Räumen“ (2023), oder in vielen instrumentalen Kompositionen, wie den „Erscheinungen“ für 16 Streichinstrumente (2023) oder im 2020 komponierten Trio für Violine, Altsaxophon und Klavier „Multilog“.
In letzterem Werk läßt sich ein weiteres für mein Arbeiten fundamentales Prinzip veranschaulichen: Eine der herausragenden Charakteristika der Kunstform Musik ist für mich nämlich die Möglichkeit, mehrere Stimmen gleichzeitig zu führen bzw. zu hören: Stimmen, aus denen sich bei all deren Individualität eine gemeinsame Geschichte entspinnen mag, die aber auch kontrastieren oder aneinander vorbei kommunizieren können. In „Multilog“ habe ich etwa versucht, verschiedenste Arten der Kommunikation zwischen den drei Instrumenten zu erforschen: sie „miteinander sprechen zu lassen“ im bis zu fünfstimmigen „Dialog“ (bzw. „Polylog“ oder eben verballhornend „Multilog“), sie als Objekte wie in einer Landschaft oder in einem Raum zu platzieren, sie zu montieren, collagieren, kombinieren, sich auch gegenseitig parodieren oder elaborieren zu lassen, und so ein „Panoptikum“ der Kommunikation zu kreieren. Vorgängerarbeit war das „Stück für Tuba und Klavier“ (2019), in dem ich Ähnliches mit zwei statt drei Instrumenten anstrebte.
In jüngerer Zeit habe ich mich verstärkt mit den Potenzialen der menschlichen Stimme sowie der musikdramatischen Formen befasst – hier liegt für mein Empfinden im gegenseitigen Durchwirken unterschiedlicher Kunstformen wie Musik, Sprache, Tanz und Schauspiel ein äußerst bedeutsamer Weg, unsere so vielgestaltige Welt und deren Erleben künstlerisch auszudrücken und zu reflektieren.
Mein kompositorisches Schaffen ist auch geprägt von meinen künstlerischen und pädagogischen Tätigkeiten: Als ausübender Musiker ist es mir wichtig, mit den Instrumenten praktisch sowie handwerklich fundiert umzugehen, und sie auch selbst im nötigen Ausmaß bedienen zu können, um musikalische Ideen in spieltechnisch differenzierter Weise umsetzen zu können. Deshalb habe ich neben Klavier, Tuba und Orgel auch einigen Unterricht auf den Instrumenten Violine, Cello, Flöte, Klarinette, Saxophon und Schlagwerk genommen und lege Wert auf gute Kommunikation mit den Musikern.
Im Versuch, die Materialbehandlung und Entwicklung von Gedanken generell weiterzudenken, beziehe ich Inspiration aus der Arbeit mit elektronischer Musik: Dort ist es möglich und gängig, dass sich verschiedene musikalische Eigenschaften oder „Parameter“ gegenseitig unmittelbar beeinflussen. Etwa kann (um ein sehr einfaches Beispiel zu verwenden) die Tonlänge oder -höhe einer Stimme an die Geschwindigkeit einer anderen Stimme gekoppelt werden (proportional oder auch invers und auf viele andere Weisen der Inbeziehungsetzung), genauso könnte etwa die Obertondichte eines Klanges auf die texturale Durchlässigkeit eines anderen einwirken.
Die Anwendung dieses Grundprinzips auf die Instrumentalkomposition vermag für mich eine höchst interessante und vielversprechende Bereicherung für Substanz und Ausformung einer Komposition bilden und kann eine bemerkenswerte Fortsetzung der zuvor genannten, vermeintlich althergebrachten Komponiertradition (bis hin zum Serialismus) darstellen. Auch in diesem Sinne soll meine Musik im besten Fall „Sinn für die Vergangenheit und Ahnungen für die Zukunft“ besitzen (Schönberg, „Stil und Gedanke“).
Gabriel Bramböck (2024)