In utopischen Räumen
- fixed media, stereo
- Dauer: 26:45
- Entstehung: 2023
- Aufnahme: https://youtu.be/HZeIqdibla8
Mit „In utopischen Räumen“ (26:45, stereo, fixed media) habe ich versucht, utopische Klang-Landschaften zu erschaffen, welche als stimmungs- und facettenreiche innere Orte empfunden werden können.
Die Granularsynthese schien dafür das passende Mittel, da sie das in einem Soundfile gleichsam als „Plan“ vorliegende Klangpotenzial zum Leben erwecken kann: Während ein Bild oder ein akustischer Moment quasi als unveränderlicher Punkt in der Zeit vorliegt, umfasst eine zeitlich fixierte Musik bereits eine weitere „Dimension“, da sie sich temporal entwickelt. Eine Audiodatei konstant „von links nach rechts“, vom Anfang bis zum Schlusse ablaufen zu lassen, stellt dabei jedoch nur eine Art dar, diese auszulesen. Ein weiterer Schritt ist, deren fixierte Zeitlichkeit mittels Granularisierung aufzubrechen und in neuen Formen plastisch erstehen zu lassen: sie gewinnt in dieser Form sozusagen noch eine Dimension dazu. Diese „Postzeitlichkeit“ oder auch „Gleichzeitigkeit“ entspricht für mich einem Raum, der sich in alle Richtungen erstreckt und dabei auch erkundbar ist. Um dem Eindruck der Musik gerecht zu werden, muss dieser Raum zusätzlich als in der Zeit Metamorphosen Erfahrender imaginiert werden; auch in diesem Sinne ist es ein „utopischer Raum“. [...]
Das Material an sich umfasst selbst erstellte Aufnahmen einer Violine und einer Orgel mit jeweils unterschiedlichen Spieltechniken (Tremoli, Flageoletts, Klopfen, Rauschen, Zupfen; auf der Orgel diverse Cluster und Akkorde, Multiphonics mit einzelnen Pfeifen, verschiedene Geräusche der mechanischen Traktur, Verläufe durch Aus- und Einschalten des Motors). Im fertigen Stück werden außerdem einige (verfremdete) Töne eines Akkordeons verwendet, welches in klanglicher Hinsicht eine Brücke zwischen Orgelklang und Violinklang bildet.
Granularsynthese bildet für diese Komposition das hauptsächliche Verfahren zur Klangerzeugung. In der Nachbearbeitung kamen darüber hinaus (neben diversen Schnitten) Effekte wie Filter und (selten) Verhallung vor, außerdem wurden Klänge langsamer oder schneller abgespielt.
Im ersten Satz „Friedhof“ laufen mehrere Ebenen eines granulierten Orgelmaterials parallel in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab. Darüber spannen sich langgezogene Akkordeontöne in allen Registern. Im Laufe des Satzes werden die Klänge obertonreicher und Tonhöhenglissandi ausgeprägter.
Satz II („Panoptikum“) und III („Labyrinth“) bilden eine Einheit und verwenden als einzige Violinklänge als Ausgangsmaterial. Im III. Satz durchläuft der oben beschriebene Vorgang eines „postzeitlichen Raumes“ nochmals eine Potenzierung, indem die (selbst ja als fixierte Audiodatei vorliegende) Granularisierung des II. Satzes ihrerseits wieder granuliert wird: innerhalb von zehn solchen Durchgängen wird der Klang allmählich zur Stille hin nivelliert – vorher meint man an manchen Stellen durch die Transformationen plötzlich Meeresrauschen, Wind, brennendes Holz, Donner, Regen und sogar Vogelzwitschern zu hören. Dafür wurden keine zusätzlichen Effekte benutzt, allein die Wiedergabegeschwindigkeit der Grains spielte sich in mehreren Oktaven ab.
Der IV. Satz „Tempel“ kontrastiert mit den vorhergehenden Sätzen: er besteht aus monolithischen und dabei doch organisch schwingenden Klangblöcken. Das Wechselspiel aus Verklingen und Anschwellen versinnbildlicht Werden und Vergehen im Angesicht einer gleichgültig fortstrebenden Zeit, aber auch den dem dem Zeitlichen verhafteten Wesen dabei entstehenden Eindruck von Unmittelbarkeit und Direktheit.
Im V. Satz „Seufzen“ wird die schwebende Stimmung des Anfangs wieder aufgenommen. Klangwellen zeigen sich hier im Gegensatz zum IV. Satz von einem fast menschlich anmutenden Atem beseelt. Die Bewegtheit des Individuums scheint von vielstimmigen Chören getragen, offenbart jedoch in plötzlichen Aufwallungen auch seine Nähe zum Naturereignis; etwa zu Wind und Donner. Hier wurden Grains nicht in kontinuierlicher Abfolge, sondern in rhythmischen Ballungen eingesetzt und mit unterschiedlichen dynamischen Regionen im Buffer kombiniert, um zu einer besonderen Ausdrucksweise zu gelangen.
Eine fast mechanistische, geschäftige Bewegung durchzieht den VI. und letzten Satz „Weg“, in welchem durch eine bestimmte Parameterkonstellation mit schneller und gleichmäßiger ablaufenden Grains relativ uniforme Texturen erzeugt werden. In seiner unaufhaltsam fortschreitenden Entwicklung wird auf den Reiz von Momentum und dessen Energie angespielt, andererseits schwingt aber auch die Sturheit und Unausweichbarkeit des Voranstürmens mit. Durch die allmählich immer extremer eingesetzte Glisson-Synthese entsteht eine große Bandbreite an Transformationen des simplen Materials (Spielgeräusche der Orgeltraktur), sodass wiederum Assoziationen an Partikelphänomene wie Blubbern, Knirschen, Rascheln oder Knistern aufkommen können.
Quelle: Bramböck, Gabriel. Granularsynthese als künstlerisches Werkzeug : Vorstellung und Anwendung eines eigenen Granulators / Gabriel Bramböck. Wien, 2023.